Sturm und Meuterei: Der Untergang der Wager und das britische Kolonialreich (2024)

1741 geriet die «Wager» vor der Küste Chiles in einen Sturm und kenterte. Dreissig Männer konnten sich retten. Monate später gerieten sie unter Verdacht. David Grann erzählt eine wahre Geschichte von Mord und Meuterei.

Oliver Pfohlmann

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Die Mannschaft des britischen Kriegsschiffs «Wager» hatte gerade das Kap Hoorn umrundet, mit viel Glück. Es war im Jahr 1741, die Seeleute waren stolz, sie verstanden sich als Vertreter der Aufklärung. Vom König hatten sie die Anweisung bekommen, etwaige «Wilde», denen sie begegneten, aus ihren vermeintlich menschenunwürdigen Lebensumständen zu befreien. In der Realität kam es umgekehrt.

Die Überlebenden der «Wager» wurden von Angehörigen der Kawesqar entdeckt, einer in Patagonien und im Feuerland ansässigen Volksgruppe. Sie, die als Nomaden des Meeres bekannt waren, versorgten die halb verhungerten, hilflosen Europäer mit Fisch und Robbenfleisch. Besonders die Frauen des indigenen Volkes verblüfften die Briten durch ihre Fertigkeiten im Tauchen und Navigieren.

Für die gestrandeten Europäer hätten die «Wilden» die Rettung bedeutet – hätten sie selbst nicht das Bild einer aggressiven, gefährlichen, zerstrittenen Meute abgegeben. Weil das einzig Essbare auf der Insel der Seetang war, wurden die wenigen aus dem Wrack geretteten Nahrungsmittel streng rationiert. Dennoch waren Diebstähle an der Tagesordnung.

Hunger, Feigheit, Gewalt

Zunächst neugierig und hilfsbereit, waren die Kawesqar bald abgestossen und in berechtigter Sorge um ihre Frauen, erzählt David Grann in «Der Untergang der Wager» unter Berufung auf das Tagebuch des damals 16-jährigen Fähnrichs John Byron, des Grossvaters des Dichters. Deshalb setzten sie sich eines Morgens wieder in ihre Kanus und überliessen die Weissen ihrem Schicksal.

Die Frage, was 1741 auf Wager Island tatsächlich geschah, hat schon viele beschäftigt. Von Rousseau und Voltaire bis zu Lord Byron und Patrick OʼBrian. Kam es auf der trostlosen Insel wirklich zu einer Meuterei, ja sogar zu Mord und Kannibalismus? Was hat es mit den im Logbuch immer wieder vermerkten «Auswüchsen» auf sich? Wie gelang gleich zwei verschiedenen Besatzungsgruppen am Ende doch die Rettung? Und warum widersprachen sich die Berichte der Überlebenden so sehr, dass sich selbst die britische Admiralität im Prozess vor dem Kriegsgericht in eine Art von bürokratischem «Notausgang» flüchtete?

Sturm und Meuterei: Der Untergang der Wager und das britische Kolonialreich (2)

David Grann, der preisgekrönte amerikanische Sachbuchautor – zuletzt erschien von ihm das von Martin Scorsese verfilmte Buch «Killers of the Flower Moon» – navigiert souverän durch den Ozean aus Log- und Tagebüchern, Erinnerungen, Briefen und Gerichtsakten. Sein kenntnisreiches, elegant geschriebenes Buch liest sich so packend, als hätten sich Herman Melville und William Golding zusammengetan. Die in jeder Hinsicht filmreife Geschichte der «Wager» ist eine von Feigheit, Gewalt, Loyalität und Hochmut. Sie erzählt von den zersetzenden Folgen des Hungers, aber auch von menschlichem Einfallsreichtum und unbeugsamem Überlebenswillen.

Ein Mikrokosmos der Gesellschaft

Die «Wager» war in geheimer Mission unterwegs. Sie hatte den Auftrag, als Teil des britischen Geschwaders im Pazifik eine spanische Galeone voller Silber aufzubringen. David Grann schildert nicht nur den Ablauf der Mission, sondern zeigt detailliert, wie ein Kriegsschiff wie die «Wager» funktionierte. Sie war ein Mikrokosmos der englischen Klassengesellschaft. Schon vor dem Stranden gab es zahlreiche Tote in der zum Kriegsdienst gezwungenen Besatzung, unter der sich auch Kinder, Alte und Kranke befanden. Erst wütete das Fleckfieber an Bord, dann «die Pest der Meeres», der Skorbut.

So schmolz die 250 Mann starke Besatzung rasch auf unter 200, und die «Wager» bekam einen neuen Kapitän: den unerfahrenen, aber umso ehrgeizigeren David Cheap. Er war es, dem viele der 141 überlebenden Besatzungsmitglieder die Schuld dafür gaben, dass das Schiff zwischen zwei Felsen vor Chile auf Grund gelaufen war. Unter den Anklägern befand sich auch der für den Betrieb der Kanonen zuständige Stückmeister John Bulkeley, der zu Cheaps Rivale geworden war. Er ist die vielleicht faszinierendste Gestalt des Buches. Bulkeley pflegte einen kooperativen Führungsstil, im Gegensatz zu Cheap, der überall Aufsässigkeit witterte und auf drakonische Strafen setzte: Einem allzu vorlauten Seemann schoss er kurzerhand eine Kugel in den Kopf.

Bulkeley stammte aus einfachen Verhältnissen. Er verfügte über Charisma, Einfallsreichtum und, wie man heute sagen würde: Resilienz. Wo andere verzweifelten, blühte er regelrecht auf, entpuppte sich als Überlebenskünstler und führte darüber hinaus minuziös Tagebuch. Dieses wurde später zum Dokument zur Rechtfertigung seiner Taten und bot die Grundlage seines 1743 erschienenen Bestsellers «Eine Reise auf die Südhalbkugel in den Jahren 1740–41».

Geschichten, die nicht erzählt werden

Eine Wahnsinnsreise: Nachdem Bulkeleys Freund, der Zimmermann Cummins, die geborgene Barkasse umgebaut hatte, stachen sechs Monate nach der Strandung unter Bulkeleys Kommando 81 Mann in See – und zwar ohne den Kapitän und dessen engste Verbündete wie John Byron. Gegen alle Wahrscheinlichkeit gelang es Bulkeley, das überfüllte, gebrechliche Gefährt voller ausgehungerter Seeleute über 5000 Meilen durch die Magellanstrasse bis zur Küste Brasiliens zu steuern.

Es sei eine der längsten und abenteuerlichsten Seereisen von Schiffbrüchigen in der Geschichte geworden, so Grann. Die 29 Gestalten, die nach drei Monaten Fahrt an Land getaumelt seien, seien kaum noch als Menschen erkennbar gewesen, berichteten Augenzeugen. «Ich bin davon überzeugt, dass kein Sterblicher je mehr Mühen und Elend erlebt hat als wir», notierte Bulkeley stolz. Er dürfte freilich kaum damit gerechnet haben, dass sich auch der Kapitän und seine Freunde noch retten konnten, auf einem ganz anderen Weg, und Monate später in London Bulkeley und seine Anhänger der Meuterei bezichtigten.

Die öffentliche Meinung, befeuert von den sich widersprechenden Publikationen, war gespalten, das Kriegsgericht am Ende ratlos. Und sprach die Überlebenden wohl schon deshalb frei, vermutet David Grann, weil jede eingehendere Untersuchung ein unvorteilhaftes Licht auf die Navy und auf das desaströse Militärabenteuer gegen Spanien geworfen hätte. Etwas leichtfertig erscheint freilich Granns Urteil, sämtliche Überlebenden der «Wager» hätten ihre Rolle im «imperialistischen System» verdrängt und dieses dadurch gestützt.

Aus der Geschichte verdrängt wurde die tragischste Figur: das einzige schwarze Besatzungsmitglied der «Wager», John Duck, ein freier Seemann – der nach seiner Rettung in Brasilien entführt und als Sklave verkauft worden war. «Ein Weltreich wie das britische», schreibt David Grann, «verdankt seine Macht auch den Geschichten, die es weitererzählt, aber nicht weniger wichtig wären die Geschichten, die es für sich behält, der Mantel des Schweigens, den es ausbreitet, die Seiten, die es aus den Geschichtsbüchern entfernt.»

David Grann: Der Untergang der Wager. Eine Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei. Aus dem Englischen von Rudolf Mast. C.-Bertelsmann-Verlag. München 2024. 432S. Fr. 34.90.

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